Die EU-Produkthaftungsrichtlinie steht vor einer bedeutenden Reform, durch welche die ohnehin schon verschuldensunabhängige Haftung von Unternehmen für fehlerhafte Produkte nochmals verschärft wird. Auslöser der geplanten Ersetzung der Richtlinie 85/374/EWG aus dem Jahr 1985, die in Deutschland durch das Produkthaftungsgesetz (ProdHaftG) umgesetzt wurde, sind unter anderem die zwischenzeitlich eingetretene Digitalisierung, das Aufkommen neuer Geschäftsmodelle innerhalb der Kreislaufwirtschaft und die globalen Lieferketten, innerhalb derer der Hersteller manchmal schwer greifbar ist. Nach der politischen Einigung zwischen EU-Kommission, Rat und Parlament auf einen „final compromise text“ wird erwartet, dass der Richtlinienentwurf spätestens Mitte 2024 verabschiedet wird. Ein Überblick über die wichtigsten Änderungen:
1. Erweiterter Produktbegriff
Unter „Produkten“ werden zukünftig ausdrücklich digitale Produktionsdateien und Software, einschließlich KI, erfasst. Dies gilt sowohl für Software, die in einem anderen Produkt integriert ist, als auch für eigenständige Software. Freie und Open-Source-Software, die nicht geschäftlich zur Verfügung gestellt wird, ist ausgenommen. Kleine Softwarehersteller können den Rückgriff des Endherstellers vertraglich ausschließen.
2. Weitere Player als mögliche Haftpflichtige
Zukünftig unterfallen deutlich mehr Wirtschaftsakteure der Produkthaftung. Neben den traditionellen Endherstellern, Teileherstellern, Quasi-Herstellern und Importeuren wird die kaskadenartige Haftung um Bevollmächtigte des Herstellers, Fulfillment-Dienstleister (d.h. Lager-, Verpackungs- und Versanddienstleister) und – unter engen Voraussetzungen – sogar Einzelhändler und Betreiber von Online-Marktplätzen erweitert. Dadurch soll der geschädigten Person auch dann ein Haftungssubjekt zur Verfügung stehen, wenn das fehlerhafte Produkt aus einem Nicht-EU-Land gekauft wurde und es keinen (Quasi-)Hersteller oder Importeur mit Sitz in der EU gibt.
Ferner gelten als Hersteller zukünftig auch Unternehmen, die ein bereits in Verkehr gebrachtes Produkt außerhalb der Kontrolle des ursprünglichen Herstellers wesentlich verändern.
3. Modernisierter Fehlerbegriff
Der neue Fehlerbegriff berücksichtigt noch stärker das moderne Produktsicherheitsrecht. So kann z.B. das Fehlen von Software-Updates unter der Kontrolle des Herstellers, die zur Aufrechterhaltung der (Cyber-)Sicherheit erforderlich sind, zur Fehlerhaftigkeit eines Produkts und damit zur Haftung führen.
4. Neue Beweiserleichterungen
Die Richtlinie führt erhebliche Beweiserleichterungen für Kläger ein. Beispielsweise soll es eine (widerlegbare) Vermutung der Fehlerhaftigkeit und des Kausalzusammenhangs zwischen Produktfehler und Schaden geben, wenn die Beweisführung aufgrund technischer oder wissenschaftlicher Komplexität für den Kläger übermäßig schwierig ist (z. B. bei einer innovativen Technologie) und der Kläger zumindest eine Wahrscheinlichkeit nachweisen kann, dass das Produkt fehlerhaft war bzw. der Fehler den Schaden verursacht hat.
Neu greift der EU-Gesetzgeber zukünftig auch in das Zivilverfahrensrecht der Mitgliedstaaten ein und verpflichtet den Beklagten, auf Antrag des Klägers in einem Gerichtsverfahren die in seiner Verfügungsgewalt befindlichen relevanten Beweismittel offenzulegen; ein solcher Ausforschungsbeweis ist bisher nur in Common Law-Staaten üblich. Dabei müssen die Gerichte jedoch Maßnahmen ergreifen, um Geschäftsgeheimnisse des Beklagten zu schützen.
5. Größerer Schadensumfang
Als ersatzfähiger Schaden gilt zukünftig auch der Verlust und die Verfälschung von Daten, die nicht ausschließlich für berufliche Zwecke verwendet werden. Der bisherige Selbstbehalt von 500 EUR sowie die bislang mögliche Haftungsgrenze (von der Deutschland in § 10 ProdHaftG mit 85 Mio. Euro Gebrauch gemacht hat), entfallen, was die potenzielle Haftung für Unternehmen erhöht.
Fazit: Das verschärfte Produkthaftungsregime in Europa stärkt den Schutz der Verbraucher und reduziert die Rechtssicherheit für Unternehmen. Diese sollten sich der weitreichenden Änderungen und erhöhten Risiken bewusst werden, um ggf. ihre Geschäftspraktiken anzupassen, eine erweiterte Versicherungsdeckung zu prüfen oder die Verantwortlichkeiten in der Lieferkette vertraglich genauer festzulegen. Noch bleibt genügend Zeit, sich auf die geplanten Gesetzesänderungen vorzubereiten. Die Mitgliedstaaten haben nach Inkrafttreten der EU-Produkthaftungsrichtlinie 24 Monate Zeit für die Umsetzung in nationales Recht, d.h. dass die neuen Regelungen in Deutschland voraussichtlich ab Mitte 2026 anwendbar sein werden. Wenn Sie zum Kreis der Betroffenen gehören, unterstützen wir Sie gerne bei der Anpassung an die neuen Herausforderungen und der Reduzierung von Risiken.